Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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15. Juni 1918 Schiffsratten überrennen die Lord-Howe-Insel

Zwischen Australien und Neuseeland liegt die Lord-Howe-Insel, klein malerisch: weiße Sandstränden und tropischer Regenwald mit außergewöhnlicher Flora und Fauna. Als am 15. Juni 1918 das Dampfschiff Makambo vor der Insel strandet, retten sich Schiffsratten ans Ufer. Ein verheerendes Artensterben beginnt. Autorin: Prisca Straub

Stand: 15.06.2022 | Archiv

15 Juni

Mittwoch, 15. Juni 2022

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Die Waldralle ist so zutraulich wie ein Haustier. Der kräftige Laufvogel mit dem kurzen Schwanz und dem langen, nach unten gebogenen Schnabel hat nicht das Geringste zu befürchten. Er lebt zurückgezogen auf Lord-Howe, einem nur 15 Quadratkilometer kleinen Inselparadies zwischen Australien und Neuseeland; das einzige Festland im Umkreis von vielen hundert Meilen. Lichte Wälder, weiße Sandstrände - und kein einziger Fressfeind. Da die Waldralle keine Giftspinnen kennt und noch nie vor einer Schlange flüchten musste, hat sie im Lauf der Evolution ihre Flugfähigkeit aufgegeben. Flügel-Muskulatur wäre auf Lord-Howe reine Energieverschwendung. Stattdessen kommt der Vogel neugierig aus dem Unterholz getrippelt, sobald sich etwas Ungewöhnliches tut.

Sie fressen alles, was ihnen in die Quere kommt

Dieses sorglose Verhalten kam zunächst vorbeifahrenden Walfängern gelegen: Ein bisschen Radau - und der ahnungslose Schiffsproviant kam umstandslos an den Strand geeilt. So war bereits vor 1900 die einzigartige Waldrallen-Population empfindlich dezimiert. Doch dann - die Katastrophe: Am 15. Juni 1918 läuft ein britisches Dampfschiff vor der Insel auf eine Sandbank. Tagelang steckt die Makambo fest. Nachdem der Koloss endlich wieder flottgemacht ist und die Besatzung weiterfahren kann, wird klar: In der Zwischenzeit sind eine ganze Reihe Passagiere unbemerkt von Bord gegangen. Und an Land geschwommen. In atemberaubender Geschwindigkeit nehmen Schiffsratten Besitz von ihrem neuen Territorium. Nacht für Nacht ziehen sie auf Beutezug und fressen alles, was ihnen in die Quere kommt: Schnecken, Insekten, kleine Echsen, aber auch Vogeleier und junge Küken. Innerhalb kürzester Zeit gerät das sorgenfreie Inselleben aus den Fugen. Ein verheerendes Artensterben beginnt.

Als erster verschwindet der kleine Lord-Howe-Brillenvogel mit den markanten weißen Augenringen. Dann: die lavendelfarbene Lord-Howe-Inseldrossel. Wie durch ein Wunder kann die Waldralle mit einer kleinen Restpopulation dem Appetit der Ratten zunächst entkommen.

Die wenigen Siedler auf der Insel versuchen verzweifelt, die ökologische Katastrophe unter Kontrolle zu bringen. Importierte Tasmanien-Schleiereulen sollen der Rattenplage ein Ende bereiten. Doch die nachtaktiven Greifer verschlimmern noch die Situation. Sie verdrängen den einheimischen Lord-Howe-Kuckuckskauz. In den 1980er Jahren ist der Waldrallen-Bestand auf nicht mal zehn Paare zusammengeschrumpft. Die vertrauensseligen Laufvögel leben versteckt in tiefen Felsspalten, teilen den Lebensraum mit geschätzten 300.000 Ratten.

Ist Lord-Howe verloren?

Ist jetzt alles verloren auf Lord-Howe? Die Insulaner setzen alles auf eine Karte - und verpesten die ganze Insel. Tonnenweise Gift. Tausende von Rattenfallen. Die Bewohner selbst, ihre Haus- und Nutztiere werden aufs Festland verschifft. So viele Wildtiere wie möglich evakuiert. Die letzten Waldrallen werden vorübergehend umgesiedelt in den Zoo von Sydney. Der Chemieangriff betrifft jeden Keller, jede Höhle, jede aus dem Meer ragende Felsspitze. Seitdem gilt das Refugium als rattenfrei. Die Waldralle hat Lord-Howe zurück.


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