Bayern 2 - Hörspiel

100 aus 100: Die Februar-Staffel Von "Anne Frank" zu "Spaceman '85"

Die Februar-Staffel hält wahre Schätze bereit. Wie etwa das Hörspiel "Weekend" von 1930, das lange als verschollen galt. Ein akustisches Bild einer Berliner Wochenend-Stadtlandschaft. Oder das bitterböse und lakonische "Fünf Mann Menschen" von Ernst Jandl über den Kreislauf des Lebens. Bis hin zu düsteren Hörspiel-Krimis wie "Coldhaven".

Stand: 30.01.2024

Episode 2. Anne Frank. Episodenbilder der Februar-Staffel von "100 aus 100 - Die Hörspielcollection" | Bild: BR

1930: Weekend

"Weekend" ist eine Pionierleistung aus den frühen Tagen des Radios: Ein elfminütiges akustisches Bild einer Berliner Wochenend-Stadtlandschaft. Walter Ruttmann hatte nach den Erfahrungen mit seinen Filmen "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" (1927) und "Melodie der Welt" (1929/1930) nach Möglichkeiten gesucht, einen Hörfilm für das Radio zu produzieren. "Alles Hörbare der Welt wird Material", schrieb er 1929 in einem Manifest. "Weekend" erzählt keine Geschichte, die Montage hat keine lineare Struktur, keinen Plot, keine Dialoge. Es ist das erste Hörspiel, das ganz ohne Schauspieler und ohne vorgegebenen Text, allein mit akustischem Rohmaterial, den Original-Tönen, auskommt und in dem der Schnitt als eigenständiges Mittel eingesetzt wird. "Weekend" galt lange als verschollen, bis die Hörspielmacher Dieter Hasselblatt und Hansjörg Schmitthenner 1978 in New York zufällig eine Kopie entdeckten. | Von Walter Ruttmann | Realisation: Walter Ruttmann | Reichs-Rundfunk-Gesellschaft 1930

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1958: Anne Frank – Spur eines Kindes

"Das Tagebuch der Anne Frank", die wahre Geschichte eines jüdischen Mädchens, das sich mit ihrer Familie vor den Nazis in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckte, ist weltberühmt. Sie wurde von ihrem Vater Otto Frank herausgegeben, der als einziger seiner Familie die Vernichtungslager der Nationalsozialisten überlebte, Anne Frank kam mit 15 Jahren kurz vor Kriegsende im KZ Bergen-Belsen zu Tode. Die Veröffentlichung des Tagebuchs in Deutschland war von Zweifeln an seiner Echtheit begleitet. Der Autor und Radio-Pionier Ernst Schnabel ging den Spuren Anne Franks nach. Seine Recherchen belegen die Authentizität der Aufzeichnungen. Die Gespräche, die er mit 42 Zeitzeugen führte, verarbeitete er zu einem dokumentarischen Hörspiel, das in vielen Ländern ausgestrahlt wurde. Sein Fazit: "Die öffentliche Teilnahme am Tagebuch dieses Kindes war nicht nur bewegend, sondern auf gewisse Weise auch erschreckend. Das Schicksal von sechs Millionen hatte die deutsche Öffentlichkeit bis dahin viel weniger deutlich betroffen, als der Tod dieses einen Mädchens, und es gab Stimmen, kritische, die sagten: es leide sich eben viel leichter mit einem schönen Kinde, als mit einer unabsehbaren Armee von Verelendeten." | Von Ernst Schnabel | Mit Ernst Schnabel, Gustl Halenke, Günther Jerschke, Gertrud Kückelmann, Hans Paetsch u.a. | Regie: Fritz Schröder-Jahn | NWDR 1958

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1968: Fünf Mann Menschen

Zentrale Lebensereignisse im Zeitraffer: von der Gebärklinik über Elternhaus, Schule, Kino, Berufsberatung, Kneipe, Militär, Krieg, Spital, Gericht, Gefängnis, Erschießung wieder zurück zur Gebärklinik, diesmal in der Vaterfunktion. Ein Kreislauf, den Ernst Jandl und Friederike Mayröcker ebenso präzise wie lakonisch und mit boshafter Ironie hörbar machen. Das Hörspiel, das heute als Klassiker gilt, sorgte zur Zeit seiner Entstehung für erhebliches Aufsehen und eröffnete die Ära des sogenannten Neuen Hörspiels. | Von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker | Mit Günther Neutze, Helmut Wöstmann, Jürgen Schmidt, Friedrich von Bülow, Gian Fadri Töndury, Gerhard Remus u.a. | Regie: Peter Michel Ladiges | SWF 1968

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1977: Die Vernichtung der Dörfer

"Es ist die Geschichte meines eigenen Dorfes und meiner Familie". Was ist Jahrzehnte nach dem Kriegsende aus einem "vertriebenen Dorf" und einer "vertriebenen" Familie geworden, die seinerzeit im Rahmen des Viermächteabkommens 1945 aus dem ehemaligen Sudetenland nach dem Westen ausgesiedelt wurden? Die Familien haben sich aufgelöst. Die Ältesten von ihnen sind längst gestorben, die Älteren wohnen noch (meistens völlig vereinsamt und isoliert) in jenen ländlichen Bereichen, in die sie ausgesiedelt wurden. Die Jüngeren und die Jüngsten haben sich entfernt, sind in die Städte gezogen und haben sich bereitwillig integrieren lassen. Für sie ist die "alte Heimat" eine Art Märchengeschichte der Eltern und Großeltern. | Von Walter Aue | Mit Peter Fitz, Siemen Rühaak, Margarethe Schön, Christiane Gerlach | Regie: Robert Matejka | Sender Freies Berlin 1977

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1988: Moskauer Zeit

Drei Schläge der Kreml-Uhr dröhnen über den nächtlich leeren Roten Platz in Moskau. In Aschchabad und Tjumen ist es jetzt fünf Uhr, in Frunse sechs, in Nowosibirsk sieben, in Tschita neun, in Wladiwostok zehn und in Petropawlowsk auf Kamtschatka gerade 12 Uhr mittags. Doch überall auf diesen 22 Millionen Quadratkilometern Sowjetunion (88-mal die Bundesrepublik) fahren Züge, fliegen Flugzeuge, melden sich die Rundfunksender in "Moskauer Zeit". "Moskauer Zeit" ist der Pulsschlag einer Weltmacht, Zeittakt zentralisierter Verwaltung. "Moskauer Zeit" dient auch als Einteilung der 71 Jahre Sowjetgeschichte in Eiszeiten und Tauwetterperioden, in optimistisch beschwingte und finstere Zeiträume, in Phasen des Aufschwungs und der Stagnation: Lenins, Stalins, Chruschtschows, Breschnews Zeitalter. Seit 1982 hat der Funkautor Helmut Kopetzky auf sieben journalistischen Erkundungsreisen dieses "Sechstel der Erde" mit Stereomikrophonen ab-gehört: den lärmenden 1.Mai-Aufzug am Roten Platz und die beschwipsten Morgenstunden des Neujahrstags mit ostsibirischen Eisenbahnarbeitern; die "weißen" Leningrader Nächte, in denen die Jugend mit Gitarren und Kassettenrekordern um die Bastionen der Peter-Pauls-Festung schwärmt; die benebelnden Dreiklangwolken religiöser Gesänge im Kloster Sagorsk und das orientalische Tohuwabohu auf dem Marktplatz von Kokant/Usbekistan; die laute offizielle und die alltäglich-private, die leise und nachdenkliche UdSSR, ihren Sound. | Von Helmut Kopetzky | Mit Warwara Petrowa, Hermann Treusch | Regie: Helmut Kopetzky | hr/SFB/BR 1988

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1997: Wie Jakub, mein Vater, sich von uns wegverwandelte

Nach einer Erzählung aus "Die Zimtläden" des polnischen Autors Bruno Schulz aus dem Jahr 1934, der in traumhaften Visionen das Leben einer galizischen Kleinstadt schildert. Unter Kennern gilt der an die Bildwelten Chagalls sowie an den Erzählkosmos Franz Kafkas erinnernde Roman als einer der Höhepunkte der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die akustische Übertragung erweckt die versunkene, vernichtete, faszinierende Welt der polnisch-jüdischen Kultur, die Welt des Schtetls eben, zum Leben: So grotesk wie tragisch, so grausig wie komisch. | Von Bruno Schulz | Aus dem Polnischen von Josef Hahn & Mikolaj Dutsch | Mit Grete Wurm, Horst Bollmann, Walter Renneisen, Werner Wölbern u.a. | Bearbeitung, Regie und Komposition: Heinz von Cramer | hr 1998

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2005: Spaceman '85

An Bord der US-Raumfähre "Challenger" startet am 30. Oktober 1985 Reinhard Furrer als Wissenschaftsastronaut ins All. Der Flug dauert 7 Tage, 44 Minuten und 51 Sekunden. Seine Eindrücke spricht Furrer in ein Diktafon. Während der Startvorbereitungen noch professionell und abgeklärt, wird Furrer mehr und mehr von der Kraft der Unternehmung ergriffen, je näher der Start rückt. Während des Takeoffs, den der Amateurastronaut live unter seinem Helm mitkommentiert, treibt Furrer eine ungeahnte Euphorie, die sich in der Schwerelosigkeit des Weltraums zu einem wahren Rausch der Gefühle steigert. Vom einzigartigen Erlebnis des Weltraums spürbar im Innersten berührt, versucht Astronaut Furrer während der 112 Erdumrundungen wie in Trance und in geradezu psychedelischen Bildern seine Eindrücke auf Tonband festzuhalten. Er meditiert mit belegter Stimme über das Spiel des Lichtes unten auf der Erde und die Macht und Tiefe der Unendlichkeit. Nie zuvor und nie danach wurde der Weltraum so unmittelbar poetisch geschildert. Das Hörspiel macht aus Furrers Formulierungen mit "Weltraum-Arien" und Rezitativen ein musikalisches Epos über die Grenzen des Menschseins. Furrers Ritt ins All sollte der letzte Flug der "Challenger" sein: Bei ihrem nächsten Start explodiert die Raumfähre nach 73 Sekunden. Der Pilot Reinhard Furrer selbst stirbt 10 Jahre später bei einem Absturz im Rahmen einer Flugschau. | Von Andreas Ammer/Console | Mit Reinhard Furrer, Miriam Osterrieder, Axel Fischer | Realisation: Andreas Ammer/Console | WDR/RB 2005

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2010: Ick bin nu ma Friseuse

Kathi ist dick, und Kathi ist Friseurin. Für sie ist das kein Widerspruch, wohl aber für den Friseursalon, in dem sie sich um einen Job bewirbt. Mit der Begründung, sie sei nicht ästhetisch, schickt man sie dort wieder nach Hause. Es geht nie alles glatt im Leben, und für Kathi, so scheint es, schon gar nicht. Gerade erst hat sie sich von ihrem Mann getrennt und ist mit ihrer Tochter Julia zurück nach Berlin gezogen. Und Julia, mitten in der Pubertät, macht seitdem nur Schwierigkeiten. Doch Kathi hat gelernt, sich durchzukämpfen. Wenn man ihr keinen Job geben will, dann macht sie sich eben mit einem eigenen Salon selbständig. Selbst ist die Frau! Ein geeigneter Ort ist schnell gefunden, nur Startkapital muss noch beschafft werden. Und auch das erweist sich als kein leichtes Unterfangen. Im Gegenteil. Für Kathi beginnt das Abenteuer ihres Lebens. | Von Laila Stieler | Mit Steffi Kühnert, Marie-Luise Schramm, Cathlen Gawlich, Benito Sambo, Milan Peschel u.a. | Bearbeitung und Regie: Judith Lorentz | RBB 2010

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2017: Coldhaven

Ein fiktives schottisches Küstendorf namens Coldhaven ist noch immer im Bann des geheimnisvollen Verschwindens von Carey steht. Die Leiche des jungen Mädchens wurde bisher nicht gefunden. Sie war fünfzehn und wurde zuletzt mit dem 17-jährigen Martin Wilson gesehen, mit dem sie in den Marschen spazieren ging. Eine polizeiliche Untersuchung entlastete den jungen Mann. Das geschah vor mehr als einem Jahr. Die Geschichte des Dorfes und des Mädchens erzählt Burnside aus der Perspektive verschiedener Dorfbewohner. Dabei kommen zu Wort: der Geist von Martin, sein Bruder Paul, seine Mutter Agnes und der Postbote John, der glaubt um den Tathergang zu wissen, sowie die ehemalige Stadtbibliothekarin Agnes und ein Erzähler, der zugleich die Vermutungen der Dorfgemeinschaft über das angebliche Verbrechen spiegelt. | Von John Burnside | Aus dem Englischen von Klaus Buhlert und Bernhard Robben | Mit Felix Goeser, Johannes Silberschneider, Corinna Harfouch, Astrid Meyerfeldt u.a. | Komposition und Regie: Klaus Buhlert | SWR 2017

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2023: Wes Alltag Antwort gäb

Damit Mensch Mensch sein kann, muss er etwas darstellen − vor sich selbst und vor anderen. Und das gilt keineswegs erst seit dem Aufkommen der Sozialen Medien. Die Manipulation der eigenen Geschichte gehört schon immer zum Alltag. In einer mäandernden Walze der Selbstreflexion umkreist der Protagonist seine Alltagswelt, immer auf der Suche nach Bestätigung und in ständiger Furcht vor vernichtender Bewertung. Denn nichts kann das virtuose Ich mehr gefährden als der kritische Blick von außen, der zielsicher alles infrage stellt, was vorher mühevoll und passgenau im Zentrum des eigenen Lebens platziert wurde. Ein monologisches Gesellschaftsporträt unserer Ansprüche und Selbstauskünfte, die unser Zusammenleben lautstark prägen. | Von Gesche Piening | Mit Stephan Bissmeier, Sylvana Krappatsch u.a. | Komposition: Michael Emanuel Bauer | Regie: Gesche Piening | BR/Deutschlandfunk Kultur 2023

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