Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik via AP veröffentlichte Foto zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, während einer Ansprache an die Nation.
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Wladimir Putin, Präsident von Russland, während einer Ansprache an die Nation.

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Drohender Angriff? "Putin wittert, wenn wir schwach sind"

Bundesverteidigungsminister Pistorius warnt: Putin rüstet auf, Ende des Jahrzehnts könnten Gefahren auf uns zukommen. Die Debatte über Deutschlands "Kriegstüchtigkeit" läuft. Was braucht es für eine funktionierende Verteidigungsfähigkeit?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

"Kriegstüchtigkeit": eine Pistorius-Vokabel. Sie soll zur Handlungsmaxime und zum neuen Selbstverständnis der Bundeswehr werden. Sechsmal steht das Wort in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien", die Anfang November 2023 neu erstellt wurden. Damit ist "Kriegstüchtigkeit" die verbindliche, konzeptionelle Grundlage der deutschen Verteidigungspolitik geworden.

"Die Russische Föderation bleibt ohne einen fundamentalen inneren Wandel dauerhaft die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum", heißt es gleich zu Beginn der Richtlinien. Damit ergibt sich der Schwerpunkt der Bundeswehr: Landes- und Bündnisverteidigung, wofür es eben eine kriegstüchtige Bundeswehr brauche.

Pistorius verdeutlichte jüngst, die Bedrohung Russlands sei real, sprach von einem drohenden Angriff Putins auf Europa, beziehungsweise die Nato in "fünf bis acht Jahren". Bis dahin müsse Deutschland, die Industrie und auch die Gesellschaft in Sachen "Kriegstüchtigkeit" aufgeholt haben. Im Interview mit BR24 für das neue "Possoch klärt" erklärt Nico Lange, Verteidigungs- und Sicherheitsexperte bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo die Herausforderungen und Lösungen liegen.

BR24: Wenn Putin uns angreift, sind wir dann wehrlos?

Nico Lange: Wir können uns wehren gegen Putin. Das können wir deswegen tun, weil wir Mitglied der Nato sind und weil die Nato gemeinsam gegen Putin antreten kann. Und weil wir vor allen Dingen in der Nato eine sehr starke Rolle der Amerikaner haben. Die Frage, die man sich stellen muss, ist: Kann man sich für immer darauf verlassen oder müssen wir als Europäer mehr tun?

Die beste Möglichkeit, den Frieden zu wahren: "Auf das Schlimmste vorbereiten"

BR24: Die Debatte dreht sich um zwei Variablen: Bei einem möglichen US-Präsidenten Trump 2024 könnte die Nato an Stärke einbüßen, und wenn gleichzeitig Putin in der Ukraine Erfolge hat, dann könnte er sich ermutigt fühlen, einen Angriff zu riskieren. Das sind zwei große Bedingungen. Ist die Sorge wirklich berechtigt?

Lange: Wenn wir Bedrohungen erkennen, dann ist es die beste Möglichkeit, den Frieden zu wahren, dass wir uns auf das Schlimmste vorbereiten. Das heißt nicht, dass das wirklich eintritt. Aber wenn es zu solchen Situationen kommt und man ist unvorbereitet, dann können die Dinge einen ganz schlimmen Verlauf nehmen. Das ist für viele nicht so einfach nachzuvollziehen, dass es bei Verteidigungsfragen darum geht, das Schlimmste anzunehmen und sich darauf vorzubereiten. Aber das ist der einzige Weg, der wirklich zu verlässlicher Sicherheit führt.

Zudem wissen wir doch auch, dass Putin die ganze Zeit schaut: Was machen eigentlich die Deutschen, was machen die Europäer? Wenn Putin irgendwie wittert, dass wir schwach sein könnten, dann wird er versuchen, etwas zu tun oder uns zu erpressen. Das muss man verhindern.

"Sicherheit ist nicht kostenlos"

BR24: Unabhängig von Trump gehen Experten davon aus, dass sich die USA in den nächsten zehn Jahren mehr im Pazifik engagieren werden und das Engagement in Europa reduzieren müssen, um sich auf China zu konzentrieren. Also reicht es nicht, sich immer nur auf die USA zu verlassen?

Lange: Es ist unsere Sicherheit, um die es hier geht. Wir hatten den Luxus, dass andere sehr stark für unsere Sicherheit gesorgt haben, insbesondere in den Jahren seit 1990. Das hat bei uns ein bisschen die Illusion aufgebaut, dass es Sicherheit kostenlos gibt. Aber Sicherheit ist nicht kostenlos. Dafür muss man etwas tun.

Wir sehen doch auch gerade im Roten Meer, dass Deutschland sehr stark auf den Handel angewiesen ist, auch auf die Schiffe, die durchs Rote Meer fahren. Aber wir haben offenbar keine leistungsstarke Marine, die mithelfen kann, dass diese Handelswege sicher sind. Schon dieses eine kleine Beispiel zeigt, dass es bei uns einiges zu tun gibt.

Im Video: Putin-Angriff – Ist Deutschland wehrlos? Possoch klärt!

"Die Sicherheit des Baltikums ist unsere Sicherheit"

BR24: Polen, Finnland, Litauen rüsten auf, weil sie allen Putin zutrauen, anzugreifen. Estlands Verteidigungsminister hat gesagt: "Wenn die baltischen Staaten fallen, ist Berlin als Nächstes dran." Muss man das wirklich so dramatisch sehen?

Lange: Die Sicherheit des Baltikums ist auch unsere Sicherheit, das ist ganz eindeutig so. Deswegen finde ich das auch gut und richtig, dass der Verteidigungsminister sich damit durchsetzt, eine deutsche Brigade permanent in Litauen zu stationieren, wenn es geht, mit Familien, mit Mann und Maus. Das haben die US-Amerikaner bei uns auch gemacht im Kalten Krieg, weil sie gesagt haben: Eure Sicherheit ist unsere Sicherheit, und wenn was passiert, dann stehen wir da gemeinsam.

Ich würde jeden davor warnen, sich selbst damit zu beruhigen, indem er sagt: Putin macht das schon nicht, der will nur ein bisschen Ukraine oder der will nur ein bisschen drohen, aber eigentlich will er uns nichts tun. Wenn man sich die Rhetorik von Putin und auch von seinen Leuten in Russland anguckt, dann geht es sehr stark darum, ein dominantes russisches Imperium auf dem europäischen Kontinent voranzutreiben und uns zumindest erpressbar zu machen.

Putin will nicht in Partnerschaft mit anderen leben, sondern er will sie unterwerfen und er will seine Macht ihnen gegenüber ausüben. Wenn wir weiter in Freiheit leben wollen, wenn wir selbst gestalten wollen, wie wir leben in Europa, dann müssen wir eine Art Versicherung haben. Diese Versicherung besteht eben darin, militärisch schlagkräftig zu sein. Das ist der beste Weg, dass uns wirklich nichts passieren kann.

Hat die "Friedensbürokratie" ausgedient?

BR24: Laut der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Eva Högl, dauert es ein halbes Jahrhundert, bis die Infrastruktur der Bundeswehr komplett modernisiert ist. Das heißt, 2073 wären wir dann so weit. Das sind keine ermutigenden Aussichten.

Lange: Das ist wahr, die Wehrbeauftragte spricht da einen sehr wichtigen Punkt an. Aber was spricht denn dagegen, nicht einmal denjenigen oder diejenige zu befördern, die 20 Jahre jünger ist und ein anderes Mindset hat und die Dinge anders angehen will, anstatt einfach die Beförderungskette abzuarbeiten und nacheinander die, die sowieso dran sind, in die verantwortlichen Positionen zu bringen?

Man sieht jedenfalls in anderen Ländern, wo jüngere Leute schnell in Verantwortung kommen, ändern sich die Dinge auch schneller. Man kann doch von anderen lernen, was die gut machen, kann man übernehmen. Man muss das Rad nicht immer bei uns neu erfinden. Ich glaube aber, mit den Mitteln der Friedensbürokratie wird man diese Einsatzbereitschaft, die wir brauchen, nicht erreichen können.

Im Audio: Die Debatte über Deutschlands "Kriegstüchtigkeit" läuft

Ein Mann mit grauem Sakko und blauem Hemd, er trägt Brille und lächelt in die Kamera. Es ist der Sicherheits- und Verteidigungsexperte Nico Lange.
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Nico Lange ist Sicherheits- und Verteidigungsexperte für die Münchner Sicherheitskonferenz.

Was braucht es für eine wehrhafte Gesellschaft?

BR24: Laut Pistorius geht es darum, dass Deutschland militärisch, aber auch gesellschaftlich vorbereitet ist. Was braucht es für eine wehrhafte Gesellschaft?

Lange: Gesamtgesellschaftliche Verteidigung ist auf jeden Fall wichtig. Einfach nur zu sagen: Es gibt ja irgendwen, es gibt den Staat, die Streitkräfte, die machen das für uns – das reicht aus meiner Sicht nicht aus.

Wir sehen das in der Ukraine, dass der entscheidende Punkt für den gelingenden Widerstand der Ukrainer gegen Russland doch ist, dass die gesamte Gesellschaft sich beteiligt, dass die eine Einstellung dazu hat, dass die Leute aber auch wissen: Wie stille ich eine Blutung? Wo laufe ich hin, wenn es einen Beschuss gibt, wie organisiere ich Hilfe für die Truppe? Es geht darum, dass die Zivilgesellschaft einen Beitrag leistet und sich nicht einfach nur darauf verlässt, dass der Staat das irgendwie schon macht. Das halte ich nicht für den richtigen Weg.

Gleichzeitig müssen wir uns die Bürokratie der Bundeswehr anschauen: Die ist extrem umständlich und überhaupt nicht in der Lage, dieses Potenzial, das es gibt, erst einmal auszunutzen. Da kann man von anderen lernen, gerade jetzt von den neuen Nato-Mitgliedern Finnland und Schweden, die das exzellent machen und sich da ganz stark verbessern.

Wir Deutschen haben trotz der Zeitenwende immer noch die Auffassung: Naja, wir warten mal ab, und wir beschäftigen uns mit uns selbst und hoffen, dass die Probleme dann irgendwie vorbeiziehen. Aus diesem Modus müssen wir ganz eindeutig rauskommen.

Das Comeback des Militarismus in Deutschland?

BR24: Da gibt es dann aber einige, die von Militarismus und Remilitarisierung sprechen würden.

Lange: Ja, das Thema ist nicht unumstritten, und es ist ja auch richtig, dass man darüber diskutiert. Ich finde, dass diejenigen, die für eine bessere Verteidigungsfähigkeit stehen, sehr gute Argumente haben und dann muss man die Debatte eben austragen und muss mit den Argumenten überzeugen. Die Kritik kann man nicht einfach so abtun. Eine breite gesellschaftliche Debatte gibt es ja auch in anderen Ländern. Die kann helfen, dass man die Argumente austauscht und dass man weiterkommt.

Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist, wenn Leute russische Propaganda wiederholen oder unter dem Deckmantel, sie seien für Frieden, im Grunde sagen: Die Ukraine soll aufgeben, wir sollen die Bundeswehr verkleinern und die Verteidigungsindustrie in Deutschland abschaffen. Das sind alles Argumente, die uns Putin auf dem Silbertablett ausliefern.

BR24: Danke für das Gespräch.

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